Bscherrer erwachte nachts um 3 Uhr mit einem dumpfen Ziehen im Hinterkopf. Er öffnete die Augen und das Ziehen wurde zu einem Klopfen. Er setzte sich auf und das Klopfen wurde zu einem lodernden Feuerinferno. Sah Funken fliegen. Stand auf und bereute geboren worden zu sein. Sein Kopf drohte zu bersten. Das rechte Bein knickte ein, die Hüfte folgte, Bscherrer stand einseitig schief. Den linken Arm hatte er angewinkelt, die Hand zu Faust geballt, sein rechter Arm baumelte tot an seiner Seite. Bscherrers rechte Gesichtshälfte verkrampfte zusehends, die Oberlippe war grotesk verzerrt, Speichel lief ihm aus dem Mund. Er konnte nicht mehr klar denken, sah nur die mächtige Kreissäge auf sich zukommen. Das Sägeblatt fraß sich genüsslich durch die rechte Kopfhälfte. Bscherrer konnte sich nicht bewegen, die Schmerzen waren unmenschlich.
Nach einer halben Ewigkeit des Sägens hatte sich sein Kreislauf etwas beruhigt. Die Schmerzen ließen eine Nuance nach, das Sägeblatt wurde kleiner. Dafür war ihm nun kotzübel. In Zeitlupe schlich er in die Küche, den Kopf immer noch schräg gelegt, befüllte ein Glas mit Leitungswasser und nahm sich die Migränetabletten aus dem Schrank. Er schluckte drei Tabletten auf einmal und musste dabei den Würgereiz unterdrücken. Dann stand er 5 Minuten einfach nur so da und hörte den Schmerz etwas leiser werden. Bscherrer schwebte zurück in das Schlafzimmer und blieb neben dem Bett stehen. Wenn er sich jetzt hinlegen würde, das wusste er, würde er sterben. Folglich blieb er für lange Zeit stehen. Morgens um 8 warf er noch zwei Tabletten hinterher und war endlich in der Lage sich ins Bett zu legen. Dort blieb er den ganzen Tag und die ganze Nacht. Der Schmerz hatte ihm wieder einmal einen Tag geraubt. Unwiederbringlich.
Heute war Bscherrer einen Augenblick unaufmerksam.
Er war, 1000-fach geübt, missmutig erwacht, hatte wie so oft schlecht geträumt. Wollte dem Tag grad den Hintern zudrehen, als er das Lichtspiel an der Wand entdeckte. Die Sonne bahnte sich ihren Weg durch den nicht völlig geschlossenen Rollladen. Zwängte ihre Strahlen durch löchrige Rollladenritzen und warf sie an die Wand gegenüber von Bscherrers Bett. Er war nur kurz unaufmerksam, vergaß dummerweise für einige Sekunden, dass er Berufszyniker und im Besitz einer Selbstmitleid-Dauerkarte war und betrachtete das Lichtspiel neugierig. Nur zwei, drei Sekunden, jedoch völlig ausreichend, um ihm ein zartes Lächeln ins Gesicht zu legen. Er dachte noch „Wie schön!“ und schon war er kein Arschloch mehr. Nur kurz nicht aufgepasst und der Tag war bereits am Morgen versaut. Bscherrer war gut gelaunt.
Musik anschalten, summend rasieren und singend duschen. Rührei mit Basilikum, Toastbrot, Orangensaft, Tee. Bscherrer summte weiter. Machte sich ausgehfertig und trat in den Tag. Kopf in den Nacken, das Gesicht von der Sonne küssen lassen und den blauen Himmel einatmen. Er grinste breit. Bscherrer grüßte sogar höflich die Nachbarin, die jeden Tag zum Fenster hinaushing, um Menschen zu beobachten, zu zählen und zu markieren. Sommers wie winters. Immer die gleiche Kittelschürze und dasselbe dämliche Gesicht. Ihre Haut musste aus einer drei Meter dicken Fettschicht bestehen, denn auch im Winter trug sie nie eine Jacke am Fenster. Sie war keine Frau, sondern ein Walfisch. Frau Lebertran.
Bscherrer flanierte in die Stadt. Suchte sich ein nettes kleines Café und ließ die vorbeiziehenden Menschen an seiner guten Laune teilhaben. Die eine oder andere hübsche Frau lächelte er sogar an. Es tat ihm gut, einmal auszubrechen und nicht grantig und gemein sein zu müssen. Er verbrachte den ganzen Tag downtown, redete nur das notwendigste „Hallo, einen großen Milchkaffee bitte.“ „Danke.“ „Mach vier fünfzig.“ „Den Salat mit Putenstreifen, bitte.“ „Einmal KOPS bitte und Popcorn.“ Er trank keinen Alkohol. Spät in der lauen Nacht kehrte er nach hause zurück. Ging ins Schlafzimmer und berührte vorsichtig die Wand, die am Morgen von der Sonne gestreichelt worden war. Heute hatte er keine Angst vor der Nacht. Und ihren Träumen.
Bscherrer erwachte mit dem Gesicht auf der Tastatur seines Läppis. Er schlug die Augen auf und ließ seinen Blick wandern in der Hoffnung, etwas Unerwartetes zu sehen. Doch alles was er sah, war dieselbe Traurigkeit, die ihn seit Jahren Morgen für Morgen hämisch grinsend begrüßte. Er dachte kurz darüber nach zu Weinen, ließ es jedoch sein und setzte sich langsam im Bett auf. Auf seiner linken Gesichtshälfte waren deutlich die einzelnen Tasten des Laptops zu erkennen. Buchstabenlos. Gesichtstastatur, austauschbare Tasten der Gleichgültigkeit. Er blickte hinunter zur Rechner. Die Tasten O, P, L und Ö waren komplett zugespeichelt.
Sein Kopf fühlte sich wie ein riesiger Wattebausch an, er schmerzte jedoch nicht, wie Bscherrer mit Verwunderung feststellte. Über die Jahre hatte sich sein Körper an den Alkohol gewöhnt. Er blickte geradeaus, starrte die Wand vor seinem Bett an. Manchmal bildete er sich ein, die Wände in seiner Wohnung bewegten sich. Sie tauchten an den verschiedensten Stellen vor ihm auf. Unerwartet. Versuchten ihn in eine bestimmte Richtung zu lenken. Einmal sogar war er ringsum von ihnen eingeschlossen gewesen. Stehend. Er konnte sich nicht mehr bewegen. Roch den Putz und die Farbe vor seiner Nase. Fiel in einen tiefen Schlaf und sein Traum schob die Wände behutsam zur Seite.
Hätte er nicht urinieren müssen, wäre Bscherrer noch einige Stunden so dagelegen. Seine Blase bugsierte ihn zur Toilette, wo er gefühlte zehn Minuten Wasser ließ. Ein tolles Gefühl. Just in diesem Moment entschied er, heute nicht zur Arbeit zu gehen. Es war Freitag, so what!? Der Job kotzte ihn sowieso an. Bscherrer hasste es, zu unverschämten Anrufern nett zu sein. Nicht, dass er nicht nett sein konnte. Er hasste es nur sich des Geldes wegen zu verstellen. Eine Art Eigenverrat. Er war ein direkter Typ. Wenn ihm etwas nicht passte, sagte er es auch. Nicht immer sehr diplomatisch, aber ehrlich. Seine Mitmenschen hassten ihn dafür. Wollten lieber belogen werden.
Folglich blieb Bscherrer zuhause. Ungewaschen. Unrasiert. Ungeliebt. Setzte sich mit einer großen Flasche Wasser und einer ganzen Staude Bananen ins Bett, schaltete per Fernbedienung die Musikanlage ein und holte sein Moleskine hervor. Hier bewahrte er sorgfältig seine Gedanken auf. Alle. Gute wie schlechte. Schöne und schlimme. Wahre und gelogene. Er schrieb, skizzierte und zeichnete, bis es dunkel wurde. Dunkelheit konnte ihn nicht beeindrucken. Mutig knipste er das Licht an.
Und später am Abend, in der jungen Nacht, weinte er doch noch.
Bscherrer erwachte mit einem schalen Geschmack im Mund und mit null Bock auf Arbeit. Sich am Sack kratzend nabelte er den letzten Traum ab und wälzte sich aus dem Bett. Duschen unter der Brause, die nicht brauste, sondern tröpfelte. Heute tröpfelte sie etwas zu langsam, was ihr das Leben kostete. Neben dem Duschkopf blieben noch eine Fliese und der Brauseschlauch auf der Strecke. Bscherrers Fluche waren bis in den nächsten Ort zu hören. Mütter hielten ihren Kindern die Ohren zu.
Im Büro angekommen beschloss er, heute nur zu grunzen. Das freudige „Guten Morgen Bscherrer!“ seiner liebreizenden Kollegin tötete er mit einem gezielten Blick. Seine Erwiderung „Mmhrrrgggzz!“ bedurfte der Interpretation seiner Kollegen. Man einigte sich auf „Lasst das Arschloch in Ruhe!“.
Bscherrer arbeitete in einem Call-Center. Maulfaulheit ist in dieser Branche ein schlechter Gefährte. Dennoch blieb Bscherrer zu Beginn eine Stunde regungslos vor seinem Bildschirm sitzen. Missmutig starrend. Wer blinzelt zuerst? Der Monitor verlor. Die hektisch rot blinkende Leuchte an seinem Telefon ignorierte er lässig, woraufhin diese verstummte. Kabel raus. Auch so ein Talent, dass Bscherrer locker beherrschte. Neben Kabelziehen waren das noch Beleidigen, Grapschen und Fluchen. Und Humor und Liebenswürdigkeit. Er war ein supernettes Arschloch. Er machte es seinen Mitmenschen schwer ihn zu mögen.
„Mann, Bscherrer, verpiss dich doch, wenn du keinen Bock hast!“ ermunterte ihn einer seiner Kollegen. Etwas, was sehr entfernt Ähnlichkeit mit einem Lächeln hatte, huschte über sein Gesicht. Er schaltete den Rechner aus und verabgrunzte sich. Fuhr flux zur nächsten Tanke und kaufte sich eine Kiste Bier. Die erste Flasche kippte er während des Bezahlens hinunter. Zuhause angekommen stellte er den Kasten neben sein Bett, entkleidete sich und legte sich nackt zu seinem Laptop ins Bett. Er entpuppte sich und ging als froher, witziger Mann mittleren Alters durch die Tür ins Internet. Chatten, twittern, baggern…er beherrschte die Klaviatur perfekt. Die Frauen lagen ihm zu Füßen. Dauerfeucht.
Nach dem 10ten Bier schlief er, wie so oft, auf der Tastatur ein und besabberte diese bis zum nächsten Morgen. Maximaler Füllstand. Er träumte von Gelb. Und Orange. Und von seinen Kindern, die er so lange nicht mehr gesehen hatte. Im Traum konnte er hemmungslos weinen. In realiter spielte er den starken Zyniker. Er war ein lächerlicher kleiner Mann. Und im Grunde liebenswert. Nur traute sich niemand, dies auszusprechen.